Macroscope

Das neutrale Zinsniveau ist wichtig

Dafür, dass er nicht direkt messbar ist und sich mit der Zeit ändert, wird erstaunlich viel über den neutralen Zinssatz diskutiert, meint der Stratege Russell Silberston

10. Aug. 2022

3 Minuten

Russell Silberston

Die Dallas Federal Reserve definiert den neutralen Zins in den USA als den ‚theoretischen Leitzins, bei dem die geldpolitische Ausrichtung der US-Notenbank weder expansiv noch restriktiv wirkt. Dabei handelt es sich um den kurzfristigen Realzins, der mit der Aufrechterhaltung von Vollbeschäftigung und damit verbundener Preisstabilität in der Wirtschaft vereinbar ist.‘ Um diesen nicht beobachtbaren Realzins in einen nominalen neutralen Zinssatz umzuwandeln, addiert die Zentralbank einfach ihr Inflationsziel hinzu.

Wo das neutrale Niveau liegt, weiß niemand so genau. Trotzdem ist der neutrale Zinssatz ein wichtiger Anhaltspunkt für Zentralbanken und Marktteilnehmer: Er signalisiert, ob die Geldpolitik darauf ausgerichtet ist, die Wirtschaft anzukurbeln oder zu bremsen. Da die Geldpolitik in den meisten westlichen Volkswirtschaften derzeit rasch gestrafft wird, ist er zudem eine wichtige Orientierungshilfe bei den Entscheidungen über das Ausmaß der Zinserhöhungen.

Anlässlich der EZB-Ratssitzung im Juli, bei der die Europäische Zentralbank ihren Leitzins überraschend deutlich um 50 Basispunkte anhob, erklärte EZB-Präsidentin Lagarde, dass „das Ziel unseres Zinspfads unverändert bleibt, nämlich die schrittweise Anhebung der Zinssätze auf ein weitgehend neutrales Niveau“. Bemerkenswert ähnlich hatte sich die US-Notenbank (Fed) nach ihrer ersten Zinserhöhung im März geäußert. So hatte der Fed-Vorsitzende Powell erklärt: „Offen gesagt geht es darum ... die Zinsen so schnell wie möglich wieder auf ein neutraleres Niveau zu bringen und dann bei Bedarf noch weiter zu gehen.“

Anders als bei der Fed bleibt bei der EZB jedoch unklar, wo diese das neutrale Zinsniveau sieht. Die europäischen Währungshüter weigern sich standhaft, diese Frage zu diskutieren. Sehr deutlich wurde dies durch folgende Aussage der EZB-Präsidentin auf der Pressekonferenz nach der jüngsten EZB-Zinserhöhung: „Was ist ein neutrales Zinsniveau? Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich es nicht ... Daher werden wir uns den Kopf darüber auch erst dann zerbrechen, wenn wir so weit sind.“ Die Fed hingegen veröffentlicht ihre Einschätzung des neutralen Zinssatzes einmal im Quartal im Rahmen ihrer Zusammenfassung der Wirtschaftsprognosen. Im Juni sah die US-Notenbank das neutrale Zinsniveau bei 2,5%, was ihrem Inflationsziel von 2% plus einem Realzins von schätzungsweise 0,5% entspricht.

Warum ist das wichtig? Schließlich ist der neutrale Zinssatz ein theoretisches Konstrukt. Aber: Wenn Ziel und Pfad der Geldpolitik klar sind, stabilisiert das die Erwartungen an den Finanzmärkten und reduziert so die Volatilität. In diesem Jahr haben veränderte Erwartungen bereits zu einem massiven Ausverkauf an den globalen Anleihenmärkten geführt. Die an den 5-Jahres-Terminswapsätzen gemessenen mittelfristigen Zinserwartungen in den USA liegen jedoch seit dem Ende des ersten Quartals 2022 bei 2,5%, also auf dem Niveau, das die Fed als neutral betrachtet. Dabei hat die Fed die Zinsen seither um 1,75% angehoben und weitere 1,00% in Aussicht gestellt.

In der Eurozone, wo den Märkten weniger klar ist, wohin die Geldpolitik der EZB steuert, ist der entsprechende Terminzinssatz im gleichen Zeitraum erst von 1,5% auf 2,9% gestiegen und dann wieder auf 2% gesunken. Die Tatsache, dass die Eurozone keine vollständige Währungsunion ist, macht die Geldpolitik hier noch komplizierter. Zudem sind Zinsschwankungen für eine hoch verschuldete Volkswirtschaft wie Italien besonders abträglich, da die Beziehung zwischen Verschuldung und Zahlungsfähigkeit nicht linear ist.

Einfach zu sagen, man wisse nicht, wo der neutrale Zinssatz liegt und werde sich später damit beschäftigen, grenzt an Unverantwortlichkeit. Es wird die Volatilität erhöhen, die besonders hoch verschuldeten Volkswirtschaften der Eurozone noch weiter schwächen und die EZB möglicherweise zu einer übermäßigen Straffung zwingen, die zu einer weiteren Abwertung des Euro führen könnte. Damit würde die EZB ihre eigene Strategie der Inflationsbekämpfung aushöhlen.

Die EZB muss ihre Abneigung gegen eine Festlegung auf ein neutrales Zinsniveau überwinden und sich zu einer plausiblen Zielspanne äußern, wenn sie die mit einem geldpolitischen Straffungszyklus verbundenen Risiken minimieren will. Der neutrale Zins mag ein theoretisches Konstrukt sein, spielt aber in der Praxis durchaus eine Rolle.

Russell Silberston
Investment Strategist – Macro-economic and policy research​

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