24. Oktober 2022. Die Transformation von Energiesystemen ist kompliziert, teuer und bringt kurz- bis mittelfristige geopolitische Herausforderungen mit sich – selbst wenn das langfristige Ziel darin besteht, ein weltweites Energiesystem zu schaffen, das einfacher, günstiger und widerstandsfähiger gegenüber geopolitischen Störfaktoren ist. Auch wenn die Nachrichten momentan von der Energiekrise in Europa beherrscht werden, darf nicht vergessen werden: Der Klimawandel ist ein universelles Problem, das eine ganzheitliche und faire Lösung erfordert – gemäß dem Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (Common But Differentiated Responsibilities, CBDR), wie es in der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCC) festgeschrieben ist. Da ist es auch kein Zufall, dass die diesjährige Klimakonferenz in Afrika stattfindet.
Werfen wir zunächst trotzdem einen Blick auf die Lage in Europa. Die Energiemärkte sind durch die russische Invasion in der Ukraine im Februar und die anschließenden Unterbrechungen der Energielieferungen aus der Region erschüttert worden. Die allgemeine Abkehr von russischem Öl und Gas (Russland lieferte zuvor 40% des europäischen Erdgases und 10% des weltweiten Öls) stellt die größte strukturelle Verschiebung an den globalen Energiemärkten seit mehreren Jahrzehnten dar. In der Folge ist Europa zum wichtigsten Abnehmer von Flüssiggas (LNG) auf dem globalen Spotmarkt geworden. Das hat die Gaspreise drastisch in die Höhe getrieben und zu einem höheren Kohleverbrauch geführt – nicht nur in Europa, sondern auch in Asien, wo Kohle in mehreren wichtigen Abnehmerländern inzwischen wirtschaftlich attraktiver ist als teures importiertes Gas.Die Invasion und der anhaltende Konflikt an der europäischen Grenze haben auch gravierende Auswirkungen auf die Finanzierung der Energiewende. Die grassierende Inflation und steigende Ausgaben für Verteidigung in Europa haben ein fiskal- und haushaltspolitisches Umfeld geschaffen, in dem höhere Investitionen in die Erneuerbare-Energie-Infrastruktur politisch schwierig sind. In Verbindung mit stark steigenden Zinsen und der chaotischen Regierungspolitik in Großbritannien haben hohe Lebensmittelpreise und steigende Heizkosten kurz vor Beginn des Winters zu einem sehr angespannten sozioökonomischen Klima geführt, in dem Politiker, Zentralbanken und Regulierungsbehörden einen äußerst schwierigen Balanceakt vollführen müssen.
Den Konsumenten ist bewusst, wie wichtig Emissionsreduktionen und die Eindämmung der Erderwärmung sind. Kurzfristig stehen für viele jedoch die hohen Lebenshaltungskosten und die aktuell schwierige wirtschaftliche Realität im Vordergrund. Lobenswert sind dagegen die REPowerEU Initiative und der Inflation Reduction Act, mit denen sich die Europäische Union und die USA viel vorgenommen haben.
Die Ironie dabei ist natürlich, dass die Ereignisse des Jahres 2022 erneuerbare Energien attraktiver denn je gemacht haben. Durch den Anstieg der Öl-, Gas- und Kohlepreise hat sich die Wirtschaftlichkeit von Solar- und Windenergie im Vergleich zu Kohlenwasserstoffen deutlich verbessert. Die Umstellung auf erneuerbare Energien muss weltweit beschleunigt werden. Länder, die zusammen für weit über 70% der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich sind, haben sich inzwischen Netto-Null-Ziele gesetzt. Insgesamt ist das Bewusstsein für die Dringlichkeit des Klimaschutzes und den enormen damit verbundenen Kapitalbedarf inzwischen viel größer als zuvor. Dazu haben auch der Bericht des Weltklimarats (IPCC) Anfang dieses Jahres sowie die Arbeit der Internationalen Energieagentur beigetragen.
Was die zweite Dimension des Energietrilemmas – Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltauswirkungen – angeht, haben die Ereignisse in der Ukraine und die Reaktionen darauf die historische Abhängigkeit des globalen Energiesystems von geopolitisch instabilen Regionen verdeutlicht. Mit der Beschleunigung der Energiewende und der Verdrängung fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien dürfte auch das Problem der Versorgungssicherheit abnehmen. Jenseits der aktuellen Marktvolatilität und Nachrichtenflut zeigt sich, dass es bei der Bewertung der Auswirkungen der Ukraine-Krise auf die Energiewende auf den Zeithorizont ankommt: Auf absehbare Zeit dominieren die schlechten Nachrichten, aber für die längerfristige Umstellung der Energiesysteme sind die aktuellen Entwicklungen sehr förderlich.
Bei der COP27 in Ägypten dürften viele der großen Themen von Glasgow erneut ganz oben auf der Agenda stehen. Die Schwellenländer und CO2-intensive Sektoren dürften wieder im Mittelpunkt vieler Diskussionen stehen, da sie den Kern der Emissionsproblematik bilden. Dieses Problem muss entschlossen angegangen werden. Wir erwarten intensivere Diskussionen über Transitionsfinanzierung und den Umgang von Regierungen, Regulierungsbehörden und Investoren mit den fünf Bereichen der Wirtschaft, die derzeit für 90% der weltweiten Emissionen verantwortlich sind: Energie, Mobilität, Gebäude, Industrie und Landwirtschaft. Viele der Taxonomien und Investitionsrahmen, die seit der Pariser Klimakonferenz, COP21, im Jahr 2015 entwickelt worden sind, haben Kapital aus diesen Bereichen weggelenkt. Das jedoch wird das Problem nicht lösen und könnte es sogar verschlimmern.
Im Kontext der Energiesysteme und Energieversorgung werden wir auf der COP27 auch mehr darüber hören, welche Rolle Erdgas auf dem afrikanischen Kontinent spielen könnte. Ägypten ist Afrikas drittgrößter Erdgasproduzent nach Nigeria und Algerien – und die Ereignisse des Jahres 2022 haben deutlich gemacht, wie wichtig der Zugang zu Gas aus nicht-russischer Produktion ist. Für das Zusammentreffen einer Energiewende mit einem Rohstoff- oder Energieversorgungsschock gibt es kein festes Drehbuch. Das erklärt auch einen Teil der außergewöhnlichen Preisentwicklung und Volatilität, die wir seit Februar an den Märkten beobachten konnten. Eines aber scheint klar: Auch wenn wir derzeit einen kurzfristig unvermeidbaren Rückschlag erleben, werden der Klimanotstand und die Erkenntnis, dass wir dringend unabhängiger von russischer Energie werden müssen, Regierungen, Regulierer und letztlich auch die Verbraucher dazu zwingen, sich stärker auf eine beschleunigte Umsetzung der Energiewende zu konzentrieren.Die COP27 dürfte hier neue Anstöße für gezieltere konzertierte Maßnahmen geben.